Wer hätte das gedacht, dass die in Gefühlsdingen als sehr zurückhaltend geltenden Japaner einen eigenen Penis Day feiern und beim Kanamara Matsuri mit überdimensionalen Penisstatuen durch die Straßen prozessieren? Was es damit auf sich hat, erfährst Du in diesem Beitrag.
Geschichte des Kanamara Matsuri Festivals
Kanamara Matsuri, besser bekannt als das Fest des stählernen Phallus, wird jedes Jahr am ersten Sonntag im April gefeiert. Ort des Festivals ist der Kanayama-Schrein in Kawasaki, das südlich von Tokio liegt.
Die Ursprünge des Festes gehen auf eine alte japanische Legende zurück. Diese erzählt, dass sich ein bösartiger Dämon in der Vagina einer jungen Frau versteckte, nachdem er sich in sie verliebt hatte. Die Eifersucht des Dämons war so groß, dass er zwei jungen Männern in zwei getrennten Hochzeitsnächten die Penisse abbiss. Nach dieser grausamen Tortur suchte die Frau Hilfe bei einem Schmied, der einen eisernen Phallus herstellte, um die Zähne des Dämons zu brechen. Der vom Schmied hergestellte Phallus wurde bzw. wird im Kanayama-Schrein in Kawasaki aufbewahrt.
In der Folgezeit entwickelte sich der Kanayama-Schrein vor allem zu einem beliebten Ziel für Paare, die für Fruchtbarkeit und Glück in ihrer Ehe beten wollten. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert pilgerten zudem Sexarbeiterinnen zum Schrein, um Schutz oder Heilung von sexuell übertragbaren Krankheiten zu erbitten.
Zu dieser Zeit fanden dort auch die ersten Feste zum Thema sexuelle Gesundheit statt, diese Tradition schlief allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder ein. Erst im Jahr 1970 beschloss Hirohiko Nakamura, damals Hohepriester des Schreins, die Veranstaltung wiederzubeleben. Das geschah zunächst in kleinem Rahmen und zu nächtlicher Stunde. Als im Jahre 2012 TV-Star Matsuko Deluxe, eine engagierte Verfechterin von Sex-Positivität und LGBTQ-Rechten, das Festival namentlich erwähnte, stieg die Popularität sprunghaft an. Als feste Größe im Festivalkalender zieht Kanamara Matsuri jedes Jahr etwa 50.000 Besucher an.
Japaner nutzen Festival als „Ausstieg“ aus strengem Alltag
Festivals werden in Japan als willkommene Gelegenheiten genutzt, um die vielen Einschränkungen ihres täglichen Lebens für kurze Zeit zu vergessen. Trinken, Tanzen und generelle Lockerheit sind in der japanischen Kultur eher Tabus, die nichts in der Öffentlichkeit verloren haben.
Zwar gibt es beispielsweise die Tradition der feierabendlichen Karaoke- und Trink-Sessions mit dem Chef (Nomikai genannt) oder eine lebendige LGBTIQ*-Community, die aber in weitgehender Distanz zum öffentlichen Leben praktiziert werden. So ist das aus dem Shintoismus stammende Kanamara Matsuri, auch als Festival des Stahlphallus bekannt, dazu gedacht, die sexuelle Unterdrückung zu thematisieren.
Obwohl es in der japanischen Gesellschaft offiziell als inakzeptabel gilt, sein Sexualleben öffentlich zu diskutieren oder auch nur zuzugeben, eines zu haben, sieht man beim Kanamara Matsuri ganze Familien ausgelassen, den Sex, die Fruchtbarkeit und die Erschaffung des Lebens feiern. Im Rahmen dieses Festivals wird ein fröhlicher Tag verbracht, inklusive Cross-Dressing, penisförmigen Lutschern und natürlich riesigen Phalli, die während Prozessionen durch die Straßen getragen werden. Gerade mit Blick auf die sonst diskreten und auf Privatsphäre bedachten Japaner:Innen, ist die lautstarke Feier der männlichen Genitalien durchaus überraschend.
Wiederbelebung einer langen Tradition
Das Kanamara Matsuri Festival war lange Zeit aus den Terminkalendern verschwunden, ehe es im Jahr 2019 wieder auftauchte und sich inzwischen zu einem der Haupttermine des Festivalkalenders entwickelt hat. Eine Ursache für die forcierte Wiederbelebung könnte darin liegen, dass Japan aufgrund sinkender Geburtenraten vor einer beispiellosen demografischen Herausforderung steht. Auch die japanische Gesellschaft ist, ähnlich wie die deutsche, stark überaltert. Die japanische Regierung unternimmt schon seit längerer Zeit Anstrengungen, dem entgegenzuwirken. Die Bemühungen reichen vom Kindergeld bis hin zu offiziellem Speed-Dating. Da scheint auch der perfekte Zeitpunkt für die Wiederbelebung eines alten Fruchtbarkeitsfestivals gekommen zu sein.
Kanamara Matsuri als Statement zur Trans-Thematik
Es gibt aber auch einen ganz pragmatischen Grund für die neue Popularität des Kanamara Matsuri Festivals. Es hat sich nämlich zu einem Ventil für bestimmte marginalisierte LGBTQ-Gruppen in Japan entwickelt. Gemeint sind Menschen mit fließenden Geschlechtsidentitäten. Sie müssen ihre queere Identität oft abschwächen oder ganz verbergen, gemäß dem schon berüchtigten japanischen Sprichwort: „Der Nagel, der herausragt, wird eingeschlagen“. Kanamara Matsuri bietet die Gelegenheit, fließende Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten in ihrem gesamten Spektrum zu feiern. Sichtbarstes Zeichen sind die Gruppen von transsexuellen Männern und Transfrauen, die während der Paraden einen der transportablen Phallus-Schreine tragen.
Was es bei Kanamara Matsuri zu sehen gibt
Wie bei den meisten japanischen Festen besteht das Hauptereignis in einer Prozession mit sogenannten Mikoshi (tragbaren Schreinen). Der Hauptunterschied zu religiös motivierten Veranstaltungen besteht darin, dass die Schreine eine Vielzahl riesiger Phalli enthalten, die man über den Köpfen der Menschenmenge auf und ab hüpfen sieht, wenn sie durch die überfüllten Straßen getragen werden.
Wer einen guten Blick auf die verschiedenen Mikoshi haben möchte, sollte sehr früh am Tag anreisen. Die Prozession führt die Straße hinunter bis zum Kanayama-Schrein und startet gegen Mittag. Jeder Mikoshi wird von einer Gruppe von Menschen in traditioneller Kleidung getragen. Als Hauptattraktionen gelten das Kanamara Fune Mikoshi, das Big Kanamara Mikoshi und vor allem das Elizabeth Mikoshi. Die ersten beiden sind Floats (Prozessionswagen) im traditionellen Stil, obwohl sie riesige Penisse aus Stahl bzw. Holz beherbergen.
Das Elizabeth Mikoshi wurde von Elizabeth Kaikan gespendet, einer seit den 1980er Jahren existierenden Drag-Bar in Tokios Asakusabashi. Es beherbergt einen großen rosa Phallus, der in Seile (shimenawa) und gefaltetes Papier (shide) drapiert ist. Beides weist im Shintoismus auf ein heiliges Objekt hin. Getragen wird es von einer Gruppe fröhlicher Männer in knallrosa Kimonos, mit Make-up und Perücken. Sie bilden das Zentrum der Feier zur queeren Kultur.
Alle Mikoshi starten und beenden die Prozession am Eingang des Kanayama-Schreins. Die gesamte Parade dauert deutlich mehr als eine Stunde. Es gibt also genügend Zeit und Möglichkeiten, vor und nach der Parade, mit Teilnehmenden ein Foto zu machen. Hier sollte man allerdings nicht vergessen, die Erlaubnis einzuholen.
Leckereien und Aktivitäten der besonderen Art
Eine weitere, durchaus leckere Besonderheit sind spezielle Lutscher, die zu Kanamara Matsuri verkauft werden. Sie haben die Form einer Vagina oder eines Phallus, was bei den Leckermäulchen regelmäßig für leuchtende Augen und ordentlich Gekicher beim Verzehr (richtig gelesen, nicht Verkehr) sorgt.
Nachdem man seinen Phallus- oder Vagina-Lutscher genüsslich geschleckt und etwas getrunken hat, gibt es einige ebenso herausfordernde wie spaßige Aktivitäten. So besteht etwa die Möglichkeit, sich als Schnitzkünstler:In zu versuchen, indem man probiert, einen Daikon-Rettich mithilfe eines Messers in einen einigermaßen ansehnlichen Penis zu verwandeln. Lachanfälle von umstehenden Zuschauer:Innen sind hier sicher vorprogrammiert!
Ein absolutes Muss ist ein Foto mit einem hölzernen Phallus. Diese sind auf dem gesamten Gelände des Schreins aufgestellt. Wer möchte, kann auch shoppen gehen und dabei gleich noch ein gutes Werk tun. Es gibt nämlich zahlreiche thematische Produkte vom Schlüsselanhänger bis zur Kerze. Der Erlös geht an verschiedene wohltätige Zwecke.
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